Der Artikel ist als Gastbeitrag in der Neuen Fricktaler Zeitung erschienen.
Gedanken am Vortag (Mittwoch, 23. Februar 2022)
Greift er an oder nicht? Seit Wochen dominiert die Frage unsere Medien. Es ist die Kurzformel, auf die der Konflikt zwischen
Russland und der Ukraine im Westen gebracht wird. Wer die Lage differenzierter betrachten will, läuft Gefahr, in mehrere
Wespennester zu treten. Ich versuche es dennoch.
Als ich in den 1990ern erstmals in Kiew arbeitete, musste ich Schweizern jeweils noch erklären, wo die Ukraine liegt. Damals
waren dieses Land und seine Menschen, ihre Werte und Vorstellungen kaum von Russland zu unterscheiden. Heute fühlen
sich die meisten Ukrainer als solche – die lokalen Medien, Schulen und leider nicht zuletzt die Opfer der militärische
Auseinandersetzung in der Ostukraine haben ein breites Nationalgefühl hervorgebracht. Gleichzeitig ist eine
Verwestlichung der Gesellschaft im Gange. Zum Jahreswechsel dröhnten amerikanische Weihnachtslieder tagelang aus den
Lautsprechern in jedem Café und in jedem Laden in Kiew – als schallender Beweis, dass man sich nun von der russischen
Welt abgewandt hat. Doch ist die Ukraine noch weit von einer westlichen Demokratie entfernt. Oligarchische Clans haben
die lukrativen Wirtschaftszweige unter sich aufgeteilt und dominieren Politik und Medien. Einseitige mediale
Berichterstattung gibt es auch in der Ukraine, und mehrere oppositionelle TV-Sender wurden vergangenes Jahr
geschlossen.
Ich bin auch mit Russland verbunden und häufig beruflich in Moskau. Dort herrscht ein anderes Narrativ. Im Januar führten
meine russischen Freunde ein Argument nach dem andern an, im Versuch zu belegen, dass Russland von der Welt
ungerecht behandelt würde, wo es doch eigentlich Frieden und Kooperation wolle. Die Propaganda in den russischen
Staatsmedien ist einfach gestrickt, und sie verfehlt ihre Wirkung nicht. Doch in der Sorge um Objektivität muss man auch
manche positive Entwicklungen erwähnen, die in die Schweizer Medien kaum Eingang finden, denn Berichterstattung über
Russland ist bei uns in der Regel negativ gefärbt. Zum gängigen Russlandbild passt zum Beispiel nicht, dass Moskau
wirtschaftlich boomt: Die Verdreifachung der Anzahl Metrostationen im Vergleich zu vor 15 Jahren, hunderte moderne
Wolkenkratzer in der Moskauer Peripherie, von denen es in der Schweiz jeder einzelne auf die Titelseite der Schweizer
Zeitungen geschafft hätte, die weit fortgeschrittene Digitalisierung, von der man sich auch hierzulande etwas abschauen
könnte, oder neue russische Nahrungsmittel von hoher Qualität zeugen von gewaltigen Investitionen. Was in Russland
fehlt, ist Mitsprache von unten – Putins Machtapparat bestimmt die Geschehnisse.
In der Beurteilung der Ereignisse im Osten Europas dürfen die Nuancen nicht verloren gehen. Es gilt die Quadratur des
Kreises zu verwirklichen: Die Ukraine, dieses unfertige Projekt im ständigen Neuanfang, sollte von der Schweiz klar
unterstützt werden. Dabei müssen aber auch Forderungen gestellt werden, zum Beispiel dass die Pluralität von Meinungen
erhalten bleibt, und wirtschaftliche Unterstützung in erster Linie Reformen von ukrainischer Seite bedingt. Gleichzeitig
sollten wir vermeiden, die Russen zu verteufeln. Es wäre illusorisch, von Russland zu erwarten, dass es sich wie ein
westliches Land verhält – Kultur, Struktur der Wirtschaft und Geschichte konditionieren andere Denk- und
Verhaltensweisen. Der Versuch, die Menschen und auch die Entscheide der Führung dieses Landes zu verstehen, muss nicht
bedeuten, diese Sicht auch gutzuheissen.
Die Rolle als Schweizer sehe ich im Schaffen von Brücken. Letztes Jahr konnte ich zwischen jungen Menschen aus der
Schweiz und Donezk eine Videobrücke organisieren. Für einen Anlass, den ich im Mai an der Universität für
Völkerfreundschaft in Moskau organisiere werde, lade ich auch meine ukrainischen, polnischen und rumänischen Partner
ein, auch wenn sie sehr russlandkritisch eingestellt sind. Der Dialog zwischen den Menschen verschiedener Länder ist
wichtiger denn je.
Die Furcht vor einem Krieg lässt die Schattierungen verschwimmen. Verlieren wir unsere Differenziertheit nicht.
Gedanken nach Kriegsausbruch (Donnerstag, 24. Februar 2022)
Putin hat den Angriffskrieg gewählt – direkt, rücksichtslos, blutig. Im Inneren war niemand darauf gefasst. Nur durch einen
Zufall befinde ich mich heute selbst nicht in der Ukraine. Wie die ganze Welt bin den ganzen Tag im Schockzustand. Es tut
mir so leid um das Leben jedes vaterlandsliebenden Ukrainer und jeden verblendeten russischen Soldaten, der den Preis
des Krieges mit seinem Leben oder Lebensglück zu bezahlen hat. Die patriotisch erzogenen jungen Ukrainer werden ins
Gefecht gegen den übermächtigen Gegner geschickt. Meine Freunde in Moskau geben immer noch der NATO die Schuld für
die Geschehnisse, so stark sind sie durch die jahrelange Propaganda manipuliert worden.
Vor der sich erhärtenden Gewissheit, dass die Stunde der Differenziertheit nun vorbei ist, graut es mir.