In Warschau steigt am 1. August kein Feuerwerk in den Himmel. Stattdessen heulen die Sirenen um 17 Uhr in der ganzen Stadt, worauf der Verkehr und alle Menschen auf der Strasse eine Minute lang still stehen.
An diesem Tag, zu dieser Uhrzeit, begann im Jahr 1944 der Aufstand der Warschauer gegen die Nazi-Besetzung.
Während 63 Tagen konnte die Warschauer „Heimatarmee“ den Okkupanten die Stirn bieten, bevor sie zur Kapitulation gezwungen wurde. Der Preis des blutig niedergeschlagenen Volksaufstands war zu hoch. Zehntausende Aufständische kamen ums Leben, die unerbittlichen Kämpfe und die Repressionen der Besatzer in der Zivilbevölkerung forderten über hunderttausend Menschenleben, und das alte Warschau wurde im Artilleriefeuer von Himmlers Truppen gänzlich dem Erdboden gleichgemacht. Heute steht an dessen Stelle eine andere Stadt, die von Null auf aufgebaut werden musste – nach den Bauplänen der neuen Okkupanten, die Polen bald darauf eroberten, der Sowjets. Nur wenige Reste des alten Warschaus sind erhalten geblieben, wenn man aufmerksam durch die Stadt geht, kann man sie finden.
Die heutigen Warschauer ziehen am 1. August Uniformmützen, Armbänder in den rot-weissen Farbe der polnischen Flagge oder T-Shirts mit dem Erkennungszeichen der Aufständischen an, um die Verbundenheit mit ihren Vorfahren zu zeigen. An jeder Hausecke hängen Blumen, und auf den Strassen stehen brennende Kerzen im Gedenken an die Menschen, die an diesem präzisen Ort den Tod fanden.
Während die Feierlichkeiten für die Warschauer ein Anlass des Stolzes sind, läuft es mir beim Anblick jeder improvisierten Gedenkstätte kalt über den Rücken. Dem Drang, in Tränen auszubrechen kann ich nur mit Mühe widerstehen. Wieviel Leid hat dieser Ort erfahren. Familienväter, junge Männer und Frauen haben sich für die Freiheit Ihres Landes geopfert. Ganze Familien wurden im Strudel der Geschehnisse ausgelöscht.
In den Schweizer 1.August – Gedenkfeiern geht allzu oft vergessen, dass es vor allem schieres Glück war, dass die Schweiz seit 200 Jahren Krieg und Besetzung verschont geblieben sind. Patriotismus mag ein wichtiger Kitt für die Gesellschaft sein – doch der Schweizer Patriotismus wirkt oft leer und selbstbeweihräuchernd. Wenn in den Reden Schweizer Werte, Mut, Unabhängigkeit, Freiheitsliebe und Engagement für die Gemeinschaft besungen werden, wird ausgeblendet, dass wir nicht frei wären und es uns nicht so gut gehen würde, wenn sich Menschen in anderen Ländern nicht für die Freiheit geopfert hätten, für die ihre und für die unsere.
Michael Derrer, Rheinfelden, auf Geschäftsreise in Warschau